Portsall

Das digitale Nomadentum beschert uns immer wieder die wunderbarsten Plätze. Eine glückliche Fügung führt uns nach Portsall im Departement Finistère, im westlichsten Teil der Bretagne – das Ende der Welt (oder das Tor zur neuen Welt). Nichts mehr deutet darauf hin, dass vor vierundvierzig Jahren hier eine der grössten ökologischen Katastrophen mit apokalyptischem Ausmass stattfand.

Ein grosszügiges Haus für uns alleine, gut eingerichtet, gute Internetverbindung, grosszügiger Garten für Aika – in 50 Meter Entfernung trifft man auf den 1800 Kilometern langen Küstenweg GR34, im französischen „sentier des douaniers“ (Zöllnerpfad). Der Morgen beginnt mit einem Spaziergang mit Aika, entlang des Küstenweges, vorbei am Strand Kern.

Das vorgelagerte Inselchen Kern ist nur bei Ebbe erreichbar. Steinwalle zeugen noch von den prähistorischen Grabstätten, die dann im 2. Weltkrieg als Stellungen umgenutzt wurden. Die Gezeiten bieten ein unglaublich eindrückliches Naturschauspiel.

Sieben Meter Tidenhub; bei hohem Koeffizient; alle sechs Stunden. Der kleine Strand Kern wächst bei Ebbe zu einer steinigen mit Algen überwachsenen Landschaft.

Die Gezeitenfischer „Pêche à Pieds“ sind unterwegs auf Beutesuche, drehen jeden Stein auf der Suche nach Araignées de mer, crabes, crevettes, homards, huîtres, bigorneaux, bulots, Coquilles Saint-Jacques…oder Algensammler:innen. Von den fast 800 in der Bretagne vorkommenden Algenarten sind etwa zehn essbar und zum Verkauf zugelassen. Eine junge leidenschaftliche Algen- sammlerin und –köchin bietet mir erstmals Riementang oder „Meeresspaghetti“ zur Degustation an.

Wenige Stunden später hat sich das Meer diese freigelegten Gebiete zurückerobert. Fast unmerklich wird Stein um Stein vom einflutenden Wasser zärtlich umhüllt und verschwindet langsam, während bei Sturm meterhohe Wellen gegen die Felsküste schmettern und Fontänen explosionsartig gegen den Himmel ziehen.

Algen

Die Algennutzung hat seit dem 17. Jahrhundert grosse Bedeutung in der Küche oder in der Kosmetik.

Bei Nordwind schwemmt die Flut abgestorben Algen an, die die Bauern oft mit Traktoren und Ladewagen als Düngemittel für ihre Äcker sammeln, oder als gut brennbarer Zündstoff für grosse Feuer bei Festanlässen. Bei Südwind nimmt der Tidenhub und die Meeresströmung die Algen wieder mit und hinterlässt einen spiegelblank geputzten Sandstrand.


Die Katastrophe

alle Bilder aus „Bleu Pétrole“, Fanny Montgermont

Am Morgen des 16. März 1978 – Orkanstärke 10 und bis zu 15 Meter hoher Wellengang – driftete die Amoco Cadiz, ein vollbeladener Öltanker der US-amerikanischen Amoco Oil Corporation, unter liberianischer Flagge auf der Fahrt vom Persischen Golf nach Rotterdam, gegen die felsige Küste von Portsall zu. Das Schiff ist schlecht gewartet. Ein Ruderversagen macht es manövrierunfähig. 

Der Kapitän schaltet die Motoren ab und ersucht um Hilfe. Wertvolle Stunden verstrichen, da es zu Streitigkeiten über die Bergungskosten zwischen den beiden Kapitänen der Amoco Cadiz und des Hochseeschleppers Pacific kam. Das deutsche Schlepperschiff ist nicht mächtig genug, um das weitere Abdriften gegen die felsige Küste zu verhindern. Auch der Versuch einer Ankerung scheiterte am hohen Wellengang.



Gegen Mitternacht lief die Amoco Cadiz auf den Felsen Men Gaulven vor Portsall auf. Per Helikopter gelang es der französischen Marine die Besatzung zu retten.

Die Ladung von 223.000 Tonnen Rohöl sowie der Schiffstreibstoff gelangten ungehindert ins Meer und verseuchten in den nächsten Wochen die Gewässer und mehr als 350 Kilometer der Küsten Nordwestfrankreichs. Das Katastrophenmanagement war mit einer derartigen Ölmenge überfordert. Die dafür bereitgehaltenen Gerätschaften waren über große Entfernungen entlang der Küste verteilt und mussten zum Teil über grössere Distanzen zur Unglücksstelle transportiert werden.

Die Koordination wies viele Schwachstellen auf. Das Gebiet, in welches der Tanker hineingetrieben wurde, war wegen des dichten, unübersichtlichen Nebeneinanders von flachen und tiefen Stellen für die Großschifffahrt völlig ungeeignet. Tanker, auf welche die Ladung der Amoco Cadiz umgepumpt werden sollte, konnten das Wrack wegen dieser zahlreichen, nur ungenau in den Seekarten eingezeichneten Untiefen nicht erreichen.

Die »Ermordung« der Natur, wie es ein wutentbrannter Retter damals formulierte, konnte aber verhindert werden. Dazu trugen 40‘000 Soldaten und Tausende von zutiefst betroffenen freiwilligen Helfern bei.

Nicht zuletzt halfen auch Bakterien und einige Algenarten zu einem Selbstreinigungseffekt bei, die unter den günstig warmen Bedingungen durch den Golfstrom die Kohlenwasserstoffe zersetzten.

Während sechs Monaten wurden rund 20 000 Tonnen der klebrigen schwarzen Masse mühsam von Felsen und Stränden weggeklaubt. Schätzungsweise 15 000 Vögel starben, weil ihr Gefieder verklebt war.

An einem Tag wurden allein etwa 28 Millionen tote Tiere – Fische, Muscheln, Seeigel, Schnecken – aus dem Meer geborgen. 6000 Tonnen Austern verenden. Es dauert mehr als sieben Jahre, bis sich die Meeresarten und die Austernzucht vollständig erholt haben.

Die französische Regierung und die betroffenen Gemeinden verklagten die Amoco-Gesellschaft in den Vereinigten Staaten. Nach 14 Jahren unermüdlichem Kampf erhielten sie 1,257 Milliarden Francs (190 Millionen Euro), weniger als die Hälfte der von ihnen geforderten Summe. 

Die Amoco Cadiz liegt immer noch vor Portsall und ist bei Tauchern beliebtes Objekt. Bei Ebbe ist noch ein kleiner Teil des Wracks sichtbar – hinter dem Inselchen Kern. Die Erinnerung ist immer noch lebendig. Auch 44 Jahre nach dieser apokalyptischen Katastrophe höre ich regelmässig diese Geschichte – von älteren Menschen, denen ich auf meinen Spaziergängen mit Aika begegne.


Bleu Pétrole

Buchhinweis
Morizur & Montgermont
„Bleu Pétrole“
© 2017 Bamboo édition
www.bamboo.fr

Im Bilderbuch „Bleu Pétrole“ beschreibt Gwénola Morizur ihre eigene Familiensaga, die eng mit dieser Umweltkatastrophe verbunden ist. Obwohl sie erst drei Jahre nach dem Drama geboren wurde, kennt sie die Geschichte in- und auswendig, insbesondere den Kampf ihres Großvaters und damaligen Bürgermeisters Alphonse Arzel. Fanny Montgermont hat das Buch illustriert.

Le combat d’un homme pour que les pollueurs soient les payeurs. 
16 mars 1978 : le pétrolier Amoco Cadiz s’échoue sur les rochers de Portsall, dans le Finistère. 220 000 tonnes de pétrole brut sont déversées sur près de 400 kilomètres de côtes bretonnes, provoquant l’une des plus grandes marées noires du siècle. Léon, le maire de la petite commune, décide de poursuivre les responsables et engage la lutte contre la firme propriétaire du chargement de l’Amoco, jusqu’aux procès aux États-Unis qui durera quatorze ans. À ses côtés, sa fille Bleu vit de plein fouet la catastrophe et s’en fait le témoin. Elle nous livre ses souvenirs : leur vie de famille et les liens qui les unissent. L’espoir. La persévérance. Bleu Pétrole est leur histoire.